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WYSIATI – What you see is all there is

WYSIATI – What you see is all there is. Diesen Begriff prägte der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman. WYSIATI beschreibt die Tatsache, dass uns unser Unterbewußtsein (System 1) aus wenigen Informationen eine für uns plausible Geschichte konstruiert und dem Bewußtsein (System 2) präsentiert. WYSIATI hält uns am Laufen und führt uns gleichzeitig immer wieder auf’s Glatteis.

Was ist WYSIATI?

„Auf dem Bahnhofsvorplatz steht eine Gruppe junger nordafrikanischer Männer. Julia beschleicht ein mulmiges Gefühl.“

Was ist gerade bei Ihnen passiert? Was und woran haben Sie gedacht? Wenn Sie aus Deutschland kommen und Anfang 2016 die Nachrichten verfolgt haben, werden Sie wahrscheinlich unmittelbar und mehr oder weniger unbewußt (ungewollt) die Kölner Vorfälle bemüht haben, um aus diesen beiden Informationen („nordafrikanische Männer“, „Julia mulmiges Gefühl“) eine zunächst plausibel wirkende Geschichte zu konstruieren. WYSIATI steht für „What you see is all there is“ und bedeutet soviel wie „Nur das, was das Gehirn präsent und greifbar hat, ist für das Gehirn existent.

WYSIATI – aus wenigen Informationen eine plausible Geschichte

An dem oben genannten Beispiel sieht man bereits ein wesentliches Merkmal des Phänomens WYSIATI. Unser Gehirn baut blitzschnell aus den ihm vorliegenden Informationen eine möglichst „sinnvolle“ (plausible) Geschichte zusammen. Dabei bemüht es Erfahrungswerte, Heuristiken und Informationshappen gleichermaßen. Die Sprünge, die zwischen den Informationen und Logiken gemacht werden, sind dabei teilweise so groß, dass eine echte Plausibilität, die sich auf Fakten stützen würde, nicht gegeben ist. Das spielt für unser Gehirn – genauer gesagt System 1 – auch keine Rolle. System 1 ist nicht in der Lage, die Sprünge oder gar die Größe zwischen den Sprüngen zu erkennen und zu bemessen. Unser System 1 präsentiert in Bruchteilen von Sekunden dem System 2 (bewußten Denken) eine Geschichte und unser bewußtes Denken neigt dazu, diese Erklärung unhinterfragt zu glauben. „What you see is all there is!“

Konsistenz schlägt Faktum

Die Qualität der verfügbaren Informationen ist bei der Konstruktion der Geschichte nachrangig. Wir neigen in unserem System 1 dazu, Informationen nach der Konsistenz – also der Widerspruchsfreiheit – zu bewerten und nicht nach der faktischen Qualität. In dem oben genannten Beispiel sieht man dies sehr gut. Mit dem Wissen um die Vorkommnisse in Köln werden die beiden bruchstückhaften Informationen (Sätze) in den Kontext „Flüchtlinge belästigen deutsche Frauen“ einsortiert. Das ist für die meisten Menschen (auch Nicht-AfD-Mitgliedern) konsistent und logisch erscheinend.  Ob der Wahrheitgsgehalt in den beiden Sätzen oder der kausale Zusammenhang gegeben ist, spielt für die Arbeit von System 1 keine Rolle.

Je weniger Information, desto besser

Für System 1 ist es sogar besser, wenn möglichst wenige Informationen vorliegen. Denn genau dann braucht das System 2 nicht eingeschaltet werden. In dem oben genannten Beispiel wird das sehr deutlich. Denn je weniger Informationen vorliegen, desto simpler ist es, die Kohärenz für das Gehirn herzustellen. Mehr Informationen würden im Zweifel eher dazu führen, dass sich bewußt (System 2) mit der Situation zu beschäftigen. Ein Beispiel, welches Kahneman in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ gibt, illustriert das sehr gut.

„Wird Mindik eine gute Führungskraft sein? Sie ist intelligent und stark…“ (Kahneman, S. 112)

Jedem fällt dazu in der Regel eine sehr spontane Antwort ein, die lautet „Ja.“ Sie haben aus der Beschreibung der Charaktereigenschaften geschlossen, was eine gute Führungskraft wohl haben müsste. Was Sie jedoch nicht getan haben – und das ist für die Beantwortung der oben genannten Frage wichtig – ist sich die Frage zu stellen: „Was müsste ich wissen, um die Führungskompetenz einer Person beurteilen zu können?“ Diese Frage hätte von Ihrem bewußten Denken (System 2) kommen müssen – und das ist nun einmal träge und faul. Man könnte auch sagen: Das Gehirn ist bemüht Energie zu sparen. WYSIATI – What you see is all there is.

Nicht vorhandene Informationen werden nicht berücksichtigt

Doch nicht nur wenige Informationen spielen bei WYSIATI eine Rolle. Unser Gehirn ist außerdem nicht in der Lage, nicht vorhandene oder nicht verfügbare Informationen zu berücksichtigen. In den beiden Beispielen oben könnten nicht verfügbare Informationen eine ganz neue Wertung der Sachverhalte nach sich ziehen.

„Auf dem Bahnhofsvorplatz von Marakesch steht eine Gruppe junger nordafrikanischer Männer. Julia beschleicht ein mulmiges Gefühl. Ihre Mutter hat sich seit drei Tagen nicht gemeldet, was unüblich für sie ist.“

Die fett gedruckten Informationen waren im obigen Beispiel nicht enthalten. Mit den neuen Informationen ergibt sich ein ganz anderes Bild. Wer würde jetzt noch zwangsläufig an den Kölner Bahnhofsplatz denken?

Auch die Antwort auf Frage, ob Mindik  eine gute Führungskraft sein wird, dürfte sich verändern, wenn bekannt wäre, dass Mindik nicht nur Intelligenz und Stärke besitzt sondern auch korrupt und skrupellos wäre.

Nicht vorhandene Informationen werden vom Gehirn nicht berücksichtigt. Unser System 1 ist sehr schnell im Konstruieren von Zusammenhängen, System 2 jedoch träge in der Beurteilung der dazu bekannten Fakten bzw. in der Frage ob weitere Informationen für eine vernünftige Beurteilung notwendig wären. WYSIATI: What you see is all there is…

Die Logik zwischen den Informationssprüngen

Im Zusammenwirken von System 1 und System 2 werden die verfügbaren und herangezogenen Informationen zu einer kohärenten Geschichte zusammengefügt. Dabei kann das Gehirn die logischen Sprünge zwischen den Informationen in ihrer Dimension nicht ermessen. Die Menge und die Qualität der zugrunde liegenden Daten ist für die „Geschichte“ völlig belanglos. Kahneman schreibt diesbezüglich:

„System 1 ist völlig unempfindlich für die Qualität und Quantität der Informationen, aus denen Eindrücke und Intuitionen hervorgehen.“ (Kahneman, S. 113)

Das Phänomen WYSIATI profitiert sogar von einer geringen Informationsdichte. Je weniger Informationen vorliegen, desto besser für die Kohärenz der Geschichte. Kahneman dazu:

„WYSIATI erleichtert es, jene Kohärenz und kognitive Leichtigkeit zu erreichen, die dafür sorgt, dass wir eine Aussage als wahr akzeptieren. Es erklärt, wieso wir schnell denken und in einer komplexen Welt partielle Informationen sinnvoll interpretieren können.“ (Kahneman, S. 115)

Wofür ist WYSIATI nützlich?

Natürlich ist WYSIATI im täglichen Leben äußerst nützlich. Nicht zuletzt, wenn man evolutionsbiologisch auf den Menschen schaut. Wenn einer unserer Vorfahren früher einen Säbelzahntiger gesehen hat, dann war es sicher von Vorteil, wenn System 1 aus den verfügbaren Informationen (Säbelzahntiger, wirkt hungrig, ist groß mit spitzen Zähnen) eine schnelle Entscheidungsgrundlage für System 2 („Weglaufen!“) gebaut hat. Auch heute bewegen wir uns zu einem Großteil des Tages durch unser System 1 gesteuert durch den Tag. Anders wäre der Alltag auch nicht zu bewerkstelligen. Dadurch wird unnötige Komplexität reduziert und in der Regel erhalten wir (zumindest bei Alltagssituationen) auch recht brauchbare Ergebnisse, an denen wir unser Handeln ausrichten können.

Dennoch gibt es natürlich auch Fallen, die WYSIATI für uns bereithält. Und es ist sinnvoll, diese zu kennen. Denn dann kann man den Blick heben und diese Fallen vermeiden.

Typische Denkfehler, die auf WYSIATI basieren

WYSIATI ist ursächlich für eine Reihe von Urteils- und Entscheidungsfehlern. Dazu zählen z.B. die Selbstüberschätzung, Framing-Effekte und Basisratenfehler.

WYSIATI begünstigt Selbstüberschätzung

Die Tatsache, dass „What you see is all there is“ nur die bekannten Informationen für die Konstruktion eines Sachverhalts heranzieht, führt häufig zu Selbstüberschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit. So ist es z.B. ein gut-gesicherter psychologischer Befund, dass sich 90% der Autofahrer für „überdurchschnittlich gut“ halten. Statistisch ist dies natürlich nicht haltbar. 🙂

Kahneman selbst konnte diesen „Above-Average-Effekt“ auch in vielen Startups beobachten. Er stellte den Firmengründern die Frage „In welchem Ausmaß hängt das Ergebnis Ihrer Bemühungen davon ab, was Sie in Ihrem Unternehmen tun?“ In der (zugegebenermaßen nicht ganz repräsentativen Studie) lag die Antwort nie unter 80%. Ein typischer Fall von Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten. Immerhin wird der Unternehmenserfolg von vielen weiteren (unbeeinflussbaren) Faktoren bestimmt: Wettbewerber, Marktentwicklungen und ähnliches. Informationen über diese Ebenen sind jedoch nicht (unmittelbar) verfügbar. Und wie wir oben gelernt haben, verwendet System 1 keine nicht verfügbaren Informationen für eine Bewertung eines Sachverhalts. What you see is all there is.

WYSIATI fördert Framing-Effekte

Informationen können auf unterschiedliche Weise kommuniziert werden. So kann man z.B. sagen: „Die Überlebenswahrscheinlichkeit nach einer Impfung liegt bei 99,9%“ oder man sagt „Die Sterblichkeit nach dieser Impfung liegt bei 0,1%. Letztere Darstellung ist für viele deutlich verschreckender und dennoch sagt sie das Gleiche aus. Der Denominator Neglect ist ein solcher Framing-Effekt und kann auf die Entscheidungsfindung einen erheblichen Einfluss haben. WYSIATI kommt hier zum Tragen, da man in der Regel nur eine Formulierung sieht (und nicht beide) – und „What you see is all there is.“

WYSIATI und Basisratenfehler

What you see is all there is fördert in der Regel den Griff zu Stereotypen und Heuristiken anstatt sich mit Basisraten und Grundgesamtheiten, die statistisch signifikant wären zu beschäftigen. Ein Beispiel:

Martin ist akkurat und sehr akribisch. Er schätzt Pünktlichkeit und hat einen ausgeprägten Ordnungssinn. Ist Martin Bibliothekar oder Landwirt? (Beispiel nach Kahneman).

Intuitiv passt die (stereotype) Beschreibung von Martin auf einen Bibliothekar wie man ihn sich vorstellt. Rein statistisch hingegen gibt es durchaus mehr Landwirte als Bibliothekare im Land. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Martin Landwirt ist, deutlich höher. Es zählte eben nur, was man in Form von Vorstellungen und Heuristiken parat hat, wenn man sich ein schnelles Urteil bildet.

WYSIATI als Ursache für gesellschaftliche Strömungen

Das WYSIATI-Phänomen und die daraus resultierenden kognitiven Verzerrungen sind tagtäglich in der Presse gut zu beobachten. Insbesondere in der zunehmend komplexer und schneller werdenden Zeit sehnt sich kognitiv gesehen das Gehirn nach einfachen, konsistent erscheinenden Botschaften. Das Gehirn liebt eben Ordnung. Personen und Gruppierungen, die Menschen einfache und scheinbar widerspruchsfreie „Wahrheiten“ anbieten, können sich derzeit über Zulauf freuen.

Der Erfolgt von Brexit und WYSIATI

Das jüngste Beispiel ist die Leave-Bewegung in der Brexit-Debatte. So wurden relativ einfache (und falsche) Botschaften kundgetan, die zunächst plausibel erscheinen mögen. Es wurde beispielsweise plakativ behauptet, dass Großbritannien jede Woche 350 Mio. Pfund an die EU überweisen würde. In Wahrheit seien es jedoch nur 110 Mio. Pfund, so InFacts. Unbeziffert an Gegenleistungen blieben natürlich auch die Vorteile, die aus einem einheitlichen Wirtschaftsraum entstehen würden. Ein typischer Fall von WYSIATI. Nur, was auch verfügbar ist (und konsistent erscheint), wird zur Urteilsbildung herangezogen. Schon kurz nach dem Erfolg der Leave-Bewegung machten die Führer der Bewegung übrigens einen Rückzieher und relativierten die Aussagen. Die Wirklichkeit ist dann eben doch nicht so einfach…

What you see is all there is und der Brexit Die Brexit-Bewegung in Großbritannien hat mit dem WYSIATI-Effekt wirkungsvoll Stimmung gemacht. Zwei vermeintlich einfache Sachverhalte ergeben eine kohärente Geschichte.

Die Überschätzung der eigenen Planungsfähigkeit bei öffentlichen Bauprojekten

Der Berliner Flughafen BER oder die Hamburger Elbphilharmonie sind Beispiele für immer ausuferndere Großprojekte, die zu Beginn der Planung sowohl hinsichtlich des Budgets als auch des Fertigstellungstermins sehr optimistisch dargestellt wurden. Im Laufe der Bauphasen wurden dann sowohl zeitlich als auch finanziell immer größere Anpassungen vorgenommen. So wurde die Elbphilharmonie ursprünglich mit 77 Mio. EUR geplant und der geplante Fertigstellungstermin war das Jahr 2010 (Quelle: Wikipedia). Letztlich wird das Konzerthaus im Oktober 2016 übergeben (sechs Jahre später) und die voraussichtlichen Kosten liegen bei 575 Mio. EUR (498 Mio. EUR mehr als ursprünglich geplant).

Der Flughafen Berlin Brandenburg (BER) wurde ursprünglich mit einer Realisierungszeit von 2006 bis 2011 und mit Gesamtkosten von ca. 1 Mrd. EUR geplant. Mittlerweile betragen die geschätzten Gesamtkosten ca. 6 Mrd. EUR und die Fertigstellung ist noch offen. (Quelle: Wikipedia, Stand Juli 2016)

Diese beiden Bauprojekte sind nur zwei (in Deutschland bekannte) Großprojekte, die durch Selbstüberschätzung und mit Sicherheit auch durch WYSIATI immer stärker ausgeufert sind. Die Reihe internationaler Projekte ist lang und sehr häufig ergibt sich gleiche Bild.

Wie kann man Denkfehler vermeiden?

Denkfehler, die durch die WYSIATI-Regel entstehen sind allgegenwärtig. Dennoch lässt es sich vermeiden, in die ein oder andere Falle zu tappen. Wichtig ist natürlich, dass einem bewusst wird, dass eine Geschichte auf begrenzten (nur die verfügbaren) Informationen beruht. Zentral muss man sich eine Frage stellen, mit der man WYSIATI auf die Schliche kommen kann: „Was müsste ich wissen, um die Frage vernünftig beantworten zu können?“ Diese Frage ersetzt die Frage, die System 1 häufig alternativ beantwortet: „Was weiß ich (in diesem Moment) über den geschilderten Sachverhalt?

Die Frage „Was müsste ich wissen, um die Frage beantworten zu können?“ führt einen weg von den eigenen (sehr subjektiv) gefärbten Einschätzungen und Überschätzungen. So ist es bei größeren Projekten sehr sinnvoll, ähnliche Projekte der gleichen Klasse aus der Vergangenheit zu betrachten und dort sowohl die Planungsfehler der Vergangenheit (z.B. Plan- vs. Ist-Kosten) als auch die eigentliche Erfolgsquote innerhalb einer bestimmten Zeit zu analysieren. Auf diese Weise kann der eigenen Überschätzung, die auf Grund von mangelnden verfügbaren Informationen entsteht, wirksam entgegengewirkt werden.

Archiv für Projektklassen

Speziell für öffentliche Bauprojekte gibt es mittlerweile Datenbanken, die weltweit Auskunft über unterschiedlichste Bauvorhaben geben. Darin enthalten sind u.a. die ursprünglichen Planungswerte als auch die anschließend tatsächlich erreichten Grenzen. Auf Basis solcher Daten könnten nun im Vorfeld neuer Projekte diese realistisch bewertet und geplant werden. Das würde im Vorfeld viel Ärger vermeiden. Fraglich wäre dann natürlich, ob ein solches Projekt zu den (realistischeren) Kosten dann politisch überhaupt noch durchsetzbar wäre – doch das steht auf einem anderen Blatt.

Literatur und Quellen

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Svenja Hofert in ihrem Blog über Intuition und Denkfaulheit

Kostensteigerungen bei öffentlichen Großprojekten in Deutschland (Hertie School of Governance)