Was ist eigentlich Ereigniszeit? Robert Levine hat sich in seinem Buch „A Map of Time“ mit dem Zeitempfinden in verschiedenen Kulturen beschäftigt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Gesellschaften wie z.B. Deutschland und Brasilien ist das Leben nach der Uhrzeit und der Ereigniszeit. Doch was sind die Unterschiede?
Robert Levine ist promovierter Psychologe und lehrt an der California State University in Fresno. In seinem Lebenswerk beschäftigt er sich mit der Wahrnehmung und dem Umgang der Zeit in den unterschiedlichen Kulturen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen sehr industrialisierten Gesellschaften wie Deutschland, USA und Japan auf der einen Seite und weniger industrialisierten Gesellschaften wie z.B. einige Stammesvölker in Afrika aber auch die Staaten auf dem südamerikanischen Kontinent auf der anderen Seite ist die Wahrnehmung der Zeitabfolge als „Uhrzeit“ und „Ereigniszeit“.
Leben nach der Uhrzeit
In einem Leben nach der Uhrzeit werden die Ereignisse durch die Uhrzeit ausgelöst. Ein Arzttermin beginnt um 9.15 Uhr, das Mittagessen findet um 12.30 Uhr statt, die Kinder gehen um 19 Uhr ins Bett usw. Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel sind ein sehr gutes Beispiel für das Leben nach der Uhrzeit. Die Fahrpläne der Deutschen Bahn einmal ausgenommen – die funktionieren nach der Ereigniszeit. 😉
Auch die Länge eines Ereignisses ist durch die Uhrzeit terminiert. Das funktioniert manchmal sehr gut – z.B. bei gut geschulten Konferenzmoderatoren. Bei anderen Themen kommt man früher oder später in die Ereigniszeit. Wer schon einmal in einem gut gefüllten Wartezimmer beim Arzt gesessen hat oder mit der Deutschen Bahn gefahren ist, weiß was ich meine. Dann verliert die Uhrzeit ihre Bedeutung. Die Abfolge der Ereignisse ist dann durch die Ereignisse selbst determiniert.
Gesellschaften, die nach der Uhrzeit leben, richten die Zeitplanung und -nutzung stark nach sachlichen Aspekten aus, die über die Uhrzeit terminiert werden können. Die soziale Komponente nimmt in der Regel bei weitem nicht so viel Raum ein, wie bei Menschen, die nach der Ereigniszeit leben. So ist es z.B. in Uhrzeit-Gesellschaften keinesfalls ein Zeichen von Unhöflichkeit, wenn man ein Gespräch mit dem Hinweis auf einen nachfolgenden Termin beendet.
Das Leben nach der Uhrzeit geht manchmal sogar so weit, dass selbst biologische Bedürfnisse wie Essen danach ausgerichtet werden – unabhängig davon, ob das Bedürfnis überhaupt akut ist. So gibt es tatsächlich einen statistischen Zusammenhang zwischen Übergewicht und „Essen nach der Uhrzeit“. Menschen, die sich ihre Essenszeiten nach der Uhr einrichten und nicht nach ihrem Hungergefühl, sind häufig wesentlich dicker als Menschen, die nach ihrem biologischen Bedürfnis handeln und erst dann essen, wenn sie wirklich Hunger verspüren.
Leben nach der Ereigniszeit
Die Ereigniszeit wird dadurch determiniert, dass Ereignisse durch andere Ereignisse hervorgerufen werden. Levine schreibt dazu:
„Ein besonders signifikanter Unterschied im Takt des Lebens liegt darin, ob die Menschen die Uhrzeit benutzen, um den Anfang und das Ende von Aktivitäten festzulegen, oder ob sich die Aktivitäten nach ihrem eigenen spontanen Zeitplan entwickeln dürfen – ob man also nach der Uhrzeit oder nach der Ereigniszeit lebt.“ (Levine, S. 122)
Gute Beispiele für ein Leben nach der Ereigniszeit sind z.B. spielende Kinder. Das Spielen ist nicht von der Uhrzeit determiniert – es sei denn, die Eltern unterbrechen, weil es „Zeit zum Abendessen“ sei. Die Ereigniszeit bestimmt sich nach dem Gefühl, wie lange ein Ereignis dauern sollte, wie lange es „richtig“ ist. Daniel Kahneman erinnert sich an seine Kindheit:
„I always cried when my mother came to tear me away from my toys to take me to the park, and cried again when she took me away from the swings and the slide. The resistance to interruption was a sign I had been having a good time, both with my toys and with the swings.“ (Kahneman, S. 392)
Dieser „Flow“ wird von vielen Psychologen mittlerweile als „wichtiger Schlüssel zu einem glücklichen und befriedigenden Leben“ (Levine, S. 276) angesehen.
Ereigniszeit richtet sich stark an Beziehungen, an Menschen aus. In Kulturen, wo die Ereigniszeit dominiert, wäre es z.B. unhöflich, wenn ein Ereignis durch eine Uhrzeit unterbrochen werden würde. Levine selbst nennt dazu folgendes Gedankenexperiment:
Man stelle sich vor, man wäre Dozent an einer Universität. Um 11.30 Uhr habe man einen Termin mit einem besonders fleißigen Studenten, der bisher immer gute Leistungen erbracht habe und nun mit einem selbst das Thema seiner Abschlussarbeit besprechen möchte. Um 11.25 Uhr kommt ein Studierender, der bisher durch Unpünktlichkeit und durchschnittliche Leistungen aufgefallen ist, zu einem ins Büro. Er sagt: „Ich habe endlich ein Thema für meine Abschlussarbeit gefunden, welches ich gerne mit Ihnen durchsprechen möchte“. Wie würdest du dich verhalten? In Uhrzeit-Gesellschaften hätte der Termin um 11.30 Uhr klar Vorrang. In Ereigniszeit geprägten Kulturen wäre es genau umgekehrt. (vgl. Levine, S. 262)
Zeitlängen in der Ereigniszeit werden häufig an Tätigkeiten bemessen: „Es dauert so lange, wie der Reis kocht“ oder „Wir treffen uns, wenn die Kühe zum Trinken an die Wasserstelle kommen“. Eine minutengenaue Pünktlichkeit ist in Ereigniszeit-Gesellschaften auf diese Weise natürlich nicht zu erwarten. Auf der anderen Seite ist auch keiner verstimmt, wenn man dann eben nicht zur angegebenen Zeit oder erst weit drüber erscheint. Das kann natürlich zu Missverständnissen auf beiden Seiten führen, wenn ein „Uhrzeitler“ mit einem „Ereigniszeitler“ zusammentrifft.
Was kann ich von der Ereigniszeit lernen?
Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich nur empfehlen, nicht sklavisch an der einen oder anderen Zeiteinstellung zu hängen. Vielmehr ist es sehr lohnenswert, sich Gedanken darüber zu machen, wie Uhrzeit und Ereigniszeit so in das persönliche Lebenstempo integriert werden können, dass man das Beste aus „beiden Welten“ erhält.
Umschalten zwischen Uhrzeit und Ereigniszeit als Gewinn von Lebensqualität
Unsere Gesellschaft ist von der Uhrzeit geprägt. Nicht umsonst gibt es das Stereotyp der deutschen Pünktlichkeit. (Ich persönlich bin auch kein Freund des langen Wartens, ich gebe es zu.) Ich bin selbst ein großer Freund von produktivem Arbeiten und daher schon aus diesem Grunde in vielen Lebensbereichen ein Uhrzeit-Mensch. Meine GTD-Listen sind davon abhängig, dass ich ihnen (Uhr-)Zeit widme und mit Techniken wie Pomodoro takte ich so manche Aufgabe – und komme damit gut zurecht. Mein Wohlbefinden ist also durchaus davon abhängig, dass ich einem Zeit lebe, die meiner Vorstellung im besonderen entspricht. Dennoch habe ich es zu schätzen gelernt, auch nach der Ereigniszeit zu leben. Es gibt Zeiten, zu denen ich mittlerweile ganz bewusst meine Armbanduhr abnehme und mich von den Ereignissen treiben lasse. Das geht z.B. am Wochenende besonders gut.
Den „Flow“ anstreben
Wahrscheinlich hat jeder schon seine Flow-Erfahrungen gemacht – auch ich finde diesen Zustand ungemein befriedigend. Man ist so in sein Tun vertieft, dass Zeit und Raum eins zu sein scheinen. Man selbst vergisst sich quasi und wenn man die Tätigkeit beendet hat, kann man nicht mehr genau sagen, ob man zwei Minuten in der Tätigkeit versunken war oder vielleicht zwei Stunden. Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi hat dieses Phänomen „Flow“ genannt. Flow ist eine Form der Ereigniszeit.